From: "Erhard Schwenk"
Nein, sie gelten eben so gut wie überhaupt nicht, weil sie von für Bildschirme völlig falschen Prämissen ausgehen. Vom Format über die technischen Möglichkeiten, die Art der Wahrnehmung bis hin zur notwendigen Organisation der Inhalte ist einfach alles anders.
Tja... ich mag dir da nicht so richtig zustimmen. Natürlich kann man ein Querformat eines Bildschirms nicht mit einem A4-hochkant vergleichen. Aber sehr wohl mit einem Papier-Querformat. Du sagst, daß sich das Format mit dem ziehen am Fenster ändert. Eben deswegen baue ich ja feste Tabellen, damit das Format fix bleibt. Das Beispiel mit der Schriftgröße hat auch nichts mit dem Medium zu tun. Genauso wie man bei saugfähigem Papier größere Typo als bei glattem braucht, braucht man auf dem Bildschirm einen größeren Font. Das ist ja alles klar, wirft aber nicht die allgemeinen Gesetze der Ästhetik um. Ich kann ja dem meisten, was du schreibst, zustimmen, aber ich glaube, du _überschätzt_ die Unterschiede zwischen On- und Offlinemedien. Ich weiß aus dem Konsumverhalten meiner Umgebung, daß gestylte Designersites sehr viel beliebter sind als "schnell geladene" oder "sieht auch unter Konqueror gut aus". Das interessiert einfach zu wenig Leute, als das es wichtig wäre.
Übrigens sind die Aussagen von Ratti nach meinen Erfahrungen typisch für Leute, die aus dem Print- Bereich kommen. Anstatt sich das Web erstmal anzusehen, es *gründlich* kennenzulernen und auch die dahinterstehende Technologie zu begreifen glauben sie offensichtlich, man könnte es einfach in seinem Sinne verbiegen. Das ist mit Verlaub Unsinn, wie auch aus den Aussagen erfolgreicher Web- Autoren wie Stefan Münz zu entnehmen ist.
Ich würde dich aber nochmal darauf hinweisen, daß ich kein Gestalter bin, sondern daß ich proprietäre HTML-Programmierung verteidigt habe. Wo du aber diese Thema schon so anschneidest, ich würde es mal so sehen: Der Computer und sein Umfeld ist von Technikern entwickelt worden. Und Menschen, die in so einer Schiene denken, werden jetzt konfrontiert mit Leuten, die bedenkenlos gewachsene Standards ignorieren und völlig andere Maßstäbe ansetzen. Wenn z.B. auf dem Mac die Tilde von der Tastatur verschwindet, wenn plötzlich Microsoft statt w3c die Standards setzt, wenn offene Entwicklungen plötzlich von proprietären überrollt werden, wenn SuSE plötzlich verstärkt auf Klickibunti setzt, dann liegt das nicht daran, daß jemand die alten Regeln "nicht verstanden" hat: Es liegt daran, daß neue Zielgruppen das Werkzeug Computer für sich entdeckt haben und die alten Regeln _ändern_ wollen. Regeln sind nicht fest im Gerät eingebaut. Guck dir doch mal die Masse der Nutzer an. Trink dir Mut an und lies mal einen Thread im heise-Forum. Ja es ist furchtbar, aber das dort ist der zahlende Konsument, die Masse - nicht die Leute hier. Das ist eine richtig gute Liste hier, aber sie ist nicht "typisch". Dort kommt das Geld her, nicht hier. Der normale User schert sich nicht um Monopole, er will, daß seine Seite unterm IE gut aussieht. Netscape interessiert ihn nicht, er müsste es downloaden, aber warum? Er hat doch einen Browser. Ihn interessiert, warum man immer noch nicht über das Internet Fernsehen gucken kann, und die Probleme mit "HTML-Mails" versteht er nicht. Er weiss nur, daß ein Format, in dem er kein Bild als Briefpapier hinterlegen kann, ein schlechtes Format ist, denn es ermöglicht ihm etwas nicht, was ihm gefällt. Dann kauft er lieber DSL. Das sind die Gründe, warum zum Beispiel Microsoft so erfolgreich ist. Ja, ich mag sie auch nicht. Ja, sie bescheissen, ja, sie knebeln die Konkurrenz, ja, sie haben miese Lizenzmodelle, ja, ja, ja.... aber der wesentlich Grund des Erfolgs ist: MS baut etwas, das so aussieht und läuft, wie die Leute es wollen. Sie wollen keine Kommandozeile, sie wollen eine sprechende Büroklammer. Das mag man selber verachten, aber daran kommt man nicht vorbei. Warum sollte man Websites bauen, die einer Techie-Philosophie unterliegen? Weils Spaß macht, ja. Als Hobby, klar, mache ich selber. Aber Kommerziell? Da gelten diese Regeln nicht, da gelten andere. Das ist der eigentlich Paradigmenwechsel. Es ist doch überhaupt nicht von Interesse, ob irgendein Randgruppenbrowser nicht mehr auf seine Site kommen. Diese Leute murkeln doch ewig mit ihren alternativen Anwendungen rum und sind kein Markt. Ich bin doch selber so einer. Wenn man den Mainstream begeistert, damit lässt sich Kies machen, in Massen. Kein Unternehmen wird sagen "Ja, wir können auf 10% der Surfer als Kunden verzichten." Sie würde es nicht sagen. Aber denken. Weil sie mit diesem Stil aus den restlichen 90% mehr rausholen können. Wieviele Unternehmen legen wirklich Wert auf rollstuhlgerechte Läden? Wenige. Würde irgendeiner davon sagen "Ja, wir verzichten gerne auf Rollstuhlfahrer als Kunden."? Nein. Aber sie handeln so. Weisst du, du kannst mit all den Sachen Recht haben, die du sagst, nur eins mußt du mir erklären: Wenn unser Krempel so schlecht ist, warum verdienen wir dann Geld damit? Denn das ist doch wohl das entscheidende... Wenn du mir dann vielleicht sagst, das läge daran, daß die Werbeindustrie den Leuten den Kopf verdreht, Konsum erst erzeugt, sich am Verdienst orientiert und eine bunte Scheinwelt erzeugt, und das sei alles moralisch nicht gut... Ja. Klar. Kapitalismus heisst: bescheissen. Jeder Verkäufer wird dir sagen "Nehmen sie doch das größere, das ist toller." Das ist es doch, was Kommerzialisiernung des Internets bedeutet: Kommerz heisst: An Leuten Geld verdienen, die nicht viel nachdenken. Möglichst etwas teuer verkaufen, was sie woanders billiger kriegen. Bedürfnisse erzeugen. Bedarf suggerieren. Psychologische Tricks. "Nahmen sie doch das bunte. Ist etwas teurer. Aber bunt! Bunt ist toll!" Das ist aber nicht wirklich neu, oder? Ich empfange hier 30 Fernsehsender, die sich darüber finanzieren. Und ich treffe nicht oft Leute, die dafür wären, wir sollten einen Gang runterschalten, den Kapitalismus abschaffen und uns ein nettes Leben machen. Ich wäre sonst gerne dabei. ;-) Bis es allerdings so weit ist, verschenke ich meine privat gebastelte Software, aber zahle meine Miete mit proprietären Websites. ;-) Gruß, Ratti P.S.: Ich möchte nicht den Eindruck erwecken, mir würde diese Entwicklung gefallen. Ich beschreibe, was ich sehe, wie ich es wahrnehme.