Moin, Am Fr, den 16.01.2004 schrieb Mathias Bauer um 02:22:
Apropos, mich würde mal interessieren, wie die Seiten-Entwickler auf der Liste das sehen: spielt z.B. in Auftragsverhandlungen mit Firmen über die Erstellung von Internetauftritten die technische Praxis überhaupt (noch) eine Rolle? Werdet ihr nach eurer Meinung, eurem Rat gefragt? Kommuniziert ihr gegenüber der Firma auch die Sicht des möglichen Kunden, dessen Einwände, usw? Oder beißt ihr da auf Granit? Und heißt es also nur in etwa "Wir sind die Firma XYZ! Unser pixelgenaues Konzept steht! Entweder sie machen das so oder sie sind raus!" (Ich kann mir natürlich schon vorstellen, dass man sich im sicher heiß umkämpften Designer-Markt mit Kritik auch mal zurück hält, um einen Auftrag zu bekommen.)
[Ich bemühe mich mal, die Frage zu beantworten - trotz der schlechten Erfahrung, die ich damit gemacht habe, offen darüber zu sprechen, daß man aus verschiedensten Gründen im Alltag in unserem Marktsegment proprietäre oder "broken" Technologie einsetzen muss.] Um es mal etwas hart zu sagen: Menschen mit ästhetischem Gespür UND technischer Begabung sind ein äußerst seltenes Gut. Das führt dazu, dass Websites sehr oft aus zwei Händen kommen: Einer macht das Design, und ein ganz anderer setzt es um. Der erste dieser beiden weiß nicht, was "ein W3C" überhaupt ist. Wer von beiden jetzt "das Sagen" hat, ist absolut davon abhängig, in welchem Segment der Branche du dich bewegst. Es gibt die "Webschrubber", die bauen "Masse". Da gehst du als Kunde mit deiner Corporate-Design-Broschüre hin, die dir deine Agentur erstellt hat (Oder die Agentur der Konzernmutter in Australien), und die hauen deine in Word angelieferten Texte 1:1 rein. Die Website sieht aus wie 1000 andere Websites, aber in den Farben deiner gedruckte Broschüre, und das wars. 9.99 EUR pro HTML-File, GIFs die Hälfte. Es ist nicht abwertend gemeint, wenn ich sage, daß diese Site Massenware sind. Gern mal aus dem Template-Converter: "Willkommen auf der Website von <B>$CUSTOMER</B><BR><BR>" Es gibt die technisch fixierten Läden, die haben mit Inhalt und Form der Site eigentlich gar nicht soviel am Hut, die machen ein hübsches Flashintro, Gewinnspiele, Flash-Games, Newsflash, Onlineshop - da stellt sich die W3C-Frage gar nicht so sehr: Plain HTML, die Hälfte davon zwar deprecated aber voll funktionierend. <NOBR> und so. In die Flash-Sektion kommst du als PPC-Linuxer dann nicht rein. Hm. Und dann gibt es die Werber. Die entwerfen ein Produktwelt, kommunizieren ein Markenimage, implementieren eine Bildersprache, lassen Models knippsen und geben den ganzen Kram dann auf Papier im Pappkarton zum "Webschrubber", siehe oben. Die können gar kein HTML, wissen das und lassens bleiben. Gelegentlich kommt es dann zu etwas schwierigen Gesprächen, weil der Second Senior Art Director Consultant zwar für die Internetpräsenz verantwortlich ist, selber aber weder Computer noch Internet besitzt, benutzt oder kennt und immer das große blaue "e" da oben rechts weg haben will, das aber nunmal zum Browser gehört. "Was Browser? Machen sie das Ding weg! Das geht ja gaaaaaaar nicht!". Ich selbst arbeite in einer Designagentur. Die Designer sind dort Spezialisten für hochwertige Typographie, sauberen Satz und haben natürlich ein Problem, wenn sie diesen Qualitätsanspruch ins Web übertragen wollen. Inzwischen kann zwar fast jeder Browser /richtige/ Anführungsstriche statt Zollzeichen, aber eben keine Ligaturen, zum Beispiel. Und ein Mensch, der Tagein, tagaus viel Sorgfalt darin verwendet, einen Fliesstext manuell zu trennen, zu unterschneiden oder des Umbruchs willen umzuformulieren, hat natürlich ein Problem mit "Der Browser verwendet irgendeine Serifenschrift. Der Text bricht um, wie's passt. Der Text ist so breit, wie der Surfer seinen Browser aufreisst"... etc... pp... Von daher gibt es logischerweise recht viele Reibungspunkte, weil die Designer hinter eine bestimmte ästhetische Grenze nicht zurückkönnen, denn sie sind ja als *Designer* vom Kunden beauftragt, und er will eine *Design*leistung haben, etwas besonders ästhetisches, nicht etwas besonder W3C-kompatibles. Gewisse Prioritäten sind also einfach bereits dadurch gesetzt, daß der Kunde zu uns kommt und nicht zum "Webschrubber". Ich muß vielleicht dazu sagen, daß wir allein dadurch eine bestimmte Klientel haben. Die präsentierten Produkte sind oftmals so hochwertig, daß überhaupt keine Preise genannt oder Produkte gezeigt werden, sondern nur eine Art "Selbstpräsentation" stattfindet, ohne konkrete Inhalte. Einen Onlineshop habe ich überhaupt noch noch nie gebaut. Wir bauen nur Websites, die Teil einer Corporate-Design-Gesamtarbeit sind. Du kannst bei uns keine "standalone" Website kaufen, wir wollen auch dein Briefpapier, deine Broschüren und dein Firmenlogo machen. Die Homogenität zwischen diesen Produkte erlaubt uns oft kein W3C-Webdesign, weil die Website eben auch zu einer Printbroschüre passen muß. Wir geben uns aber sehr viel Mühe, trotzdem eine Zugänglichkeit für alternative Browser und OSse herzustellen. Du wirst von uns keine "IE-only"-Sites bekommen, in der Regel sind JavaScript und/oder Cookies aber Pflicht, und vieles, was eigentlich Text sein sollte, wird über Bilder realisiert. Das sind dann eben so Sachen: Klar geht es auch ohne Cookies - aber ein Surfer, der demnächst ein Produkt dieser Firma für 1.000.000 EUR (kein Witz) erwerben will, der darf einfach nicht ein zweites Mal auf "Sprache: Deutsch" klicken müssen, so was packe ich in einen Cookie, der viele Jahre halten muss :-). Und wer ein Produkt des Markennamens wegen kauft (und nicht ein billigeres Produkt, das wohlmöglich deutlich besser ist), der will den Markennamen in der /richtigen/ Schrift sehen, immer wieder. Ein typischer Vertreter dieser Ecke wäre zum Beispiel (Ausgedacht! Nicht unsere Kunden!) Rolex, BMW, Cartier,... In dieser Einkommensklasse findest du sehr, sehr wenige Menschen, die Zuhause an ihrem Linux rumschrauben, mit Braille-Zeile surfen oder lynx benutzen. Trotzdem darf man nicht davon ausgehen, daß auf dem Ausgabegerät enorme Ressourcen zur Verfügung stehen - das beste Beispiel dafür ist der gut verdienende Geschäftsmann, der auf dem Flughafen noch schnell per Bluetooth auf dem 15"-Notebook surft - mit 1024 Pixeln Bildbreite ist der nämlich schon aufgeschmissen. Gruß, Ratti -- -o) fontlinge | Font management for Linux | Schriftenverwaltung in Linux /\\ http://freshmeat.net/projects/fontlinge/ _\_V http://www.gesindel.de https://sourceforge.net/projects/fontlinge/